Darf das gezielte Festkleben an der Straße als Widerstand gegen die Polizei gewertet werden? Mit Urteil des Kammergerichts Berlin vom 2. Juni 2025 (Az. 3 ORs 22/25 – 161 SRs 2/25) wurde ein Freispruch des Amtsgerichts Tiergarten aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen. Im Kern geht es um die Frage, ob die durch Sekundenkleber erzeugte Haftung zwischen Hand und Asphalt als Gewalt gegenüber Vollstreckungsbeamten zu verstehen ist. Die Berliner Richter bejahten dies und ordneten eine neue Entscheidung durch eine andere Abteilung des Amtsgerichts an. Zugleich wiesen sie darauf hin, dass auch die Anklage wegen Nötigung nochmals geprüft werden muss. Was das im Einzelnen bedeutet, erfahren Sie in diesem Artikel der Kanzlei Gronemeyer aus Essen.
Der Klebeprotest auf Berliner Kreuzungen
Im April 2023 setzte sich ein Protestierender an zwei verschiedenen Tagen auf stark befahrene Straßenkreuzungen in Berlin. Sein erklärtes Ziel war es, den Verkehr zum Stillstand zu bringen und so auf sein Anliegen aufmerksam zu machen. Um zu verhindern, dass ihn die Polizei rasch von der Fahrbahn trägt, trug er Sekundenkleber auf seine Handflächen auf und drückte diese fest auf den Asphalt. Diese Verbindung war so stabil, dass ein einfaches Wegtragen nicht mehr möglich war.
Das Verhalten hatte zwei strafrechtliche Vorwürfe zur Folge. Zum einen stand der Tatbestand der Nötigung im Raum. Nötigung bedeutet vereinfacht, dass jemand andere mit Gewalt oder Drohung zu einem Verhalten zwingt, das sie nicht möchten. Im Verkehrsrechtskontext kann das etwa das Blockieren einer Fahrbahn sein, um Autofahrer zum Anhalten zu zwingen. Zum anderen ging es um Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Dieser Tatbestand ist erfüllt, wenn eine rechtmäßige Amtshandlung, etwa das Wegtragen einer Person von der Straße, durch Gewalt verhindert oder erheblich erschwert wird.
Vor dem Amtsgericht Tiergarten wurde der Protestierende am 5. September 2024 in beiden Fällen freigesprochen. Aus dem Urteil ergab sich, dass das Gericht entweder die für die Nötigung erforderliche Verwerflichkeit nicht als gegeben ansah oder das Festkleben nicht als Gewalt im Sinne des Widerstandsdelikts bewertete. Die Entscheidung beruhte also wesentlich auf der rechtlichen Einordnung des Klebevorgangs und seiner Wirkung auf die Arbeit der Polizei.
Die Staatsanwaltschaft Berlin legte gegen den Freispruch Sprungrevision ein. Eine Sprungrevision ist ein Rechtsmittel, das die Berufungsinstanz überspringt und die Sache direkt zum Revisionsgericht bringt. Zuständig war hier das Kammergericht Berlin. Die Staatsanwaltschaft vertrat die Auffassung, das Auftragen von Sekundenkleber und das feste Andrücken der Hand auf die Fahrbahn sei ein materielles Zwangsmittel, das die Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen erheblich erschwere. Aus ihrer Sicht lag damit Gewalt vor, sodass der Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte erfüllt sei.
Warum der Freispruch keinen Bestand hatte
Das Kammergericht hob das Urteil des Amtsgerichts auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten. Nach Auffassung des Gerichts stellt das Festkleben der Hand an der Fahrbahn mittels Sekundenkleber Gewalt im Sinne des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte dar. Entscheidend war, dass durch das Auftragen des Klebers und das feste Andrücken Adhäsionskräfte entstanden, die zum Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens fortwirkten. Diese Kräfte machten ein einfaches Wegtragen unmöglich und zwangen die Beamten dazu, entweder körperlich nicht unerhebliche Kraft aufzuwenden oder physikalisch chemische Hilfsmittel einzusetzen, um die Verbindung zu lösen.
Das Gericht betonte, dass Gewalt nicht nur dann vorliegt, wenn eine Kraft unmittelbar gegen den Beamten wirkt. Auch eine mittelbare Kraftentfaltung, die die Amtshandlung später erschwert, genügt. Als anschauliches Beispiel wird in der Rechtsprechung das Abschließen einer Wohnungstür genannt, um einem Gerichtsvollzieher den Zutritt zu verwehren. Auch dabei entfaltet die ursprüngliche Handlung ihre Zwangswirkung erst beim Erscheinen des Amtsträgers. Übertragen auf den vorliegenden Fall bedeutet dies: Das Herstellen der Klebeverbindung ist eine vorweggenommene Handlung, die im Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens als Widerstand wirkt.
Der Senat setzte sich auch mit einer abweichenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden auseinander. Dort war argumentiert worden, dass das Lösen einer Verklebung durch das bloße Aufbringen eines Lösungsmittels keine nicht unerhebliche Kraftentfaltung erfordere und deshalb keine Gewalt vorliege. Das Kammergericht wies diese Unterscheidung zurück. Rechtlich komme es nicht darauf an, ob die Polizei die Zwangslage robust mechanisch oder mit einem flüssigen Hilfsmittel überwindet. Maßgeblich sei der objektiv geschaffene physische Widerstand und die erhebliche Erschwernis der Amtshandlung. Eine Differenzierung nach der Art des eingesetzten Hilfsmittels führe zu zufälligen Ergebnissen und sei mit einer sachgerechten Bewertung nicht vereinbar.
Zugleich stellte das Kammergericht klar, dass es im Revisionsverfahren keine eigenen Tatsachen feststellen darf. Das Revisionsgericht prüft Rechtsfehler der angefochtenen Entscheidung. Da im amtsgerichtlichen Urteil keine ausreichenden Feststellungen zur inneren Tatseite des Angeklagten getroffen worden waren, konnte das Kammergericht nicht selbst zu einer Verurteilung übergehen. Die Frage, mit welchem Vorsatz der Protestierende handelte, muss daher das Amtsgericht in der neuen Verhandlung klären.
Auch die Anklage wegen Nötigung ist erneut zu prüfen. Dabei ist insbesondere die sogenannte Verwerflichkeitsprüfung vorzunehmen. Gemeint ist die Beurteilung, ob Mittel oder Zweck der Nötigung sozialethisch in besonderem Maße missbilligenswert sind. Das Kammergericht weist darauf hin, dass die hierzu entwickelten Grundsätze zu beachten sind.
Eine Vorlage an den Bundesgerichtshof hielt das Kammergericht trotz der abweichenden Dresdner Auffassung nicht für geboten. Die entsprechenden Ausführungen in der dortigen Entscheidung trugen den Ausgang jener Sache nicht entscheidend, und zudem fehlten im vorliegenden Fall noch gesicherte Feststellungen zur inneren Tatseite. Damit verbleibt es zunächst bei der Zurückverweisung an das Amtsgericht, das unter Beachtung der Rechtsauffassung des Kammergerichts neu zu verhandeln hat.
Was bedeutet das für Straßenproteste?
Wer sich bei Demonstrationen gezielt auf die Fahrbahn klebt, muss mit dem Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechnen. Nach der Entscheidung des Kammergerichts Berlin kann die so erzeugte Haftung als Gewalt gewertet werden, weil sie polizeiliche Maßnahmen erheblich erschwert. Daneben bleibt die Nötigung des übrigen Verkehrs ein möglicher Tatvorwurf, der im Einzelfall eine sorgfältige Verwerflichkeitsprüfung erfordert. Wie ein Verfahren ausgeht, hängt stark von den konkreten Feststellungen zu Ablauf, Motivation und Vorsatz ab.
Für Betroffene bedeutet das: Frühzeitige rechtliche Beratung ist wichtig, insbesondere wenn mehrere Vorwürfe gleichzeitig im Raum stehen. Die Kanzlei Gronemeyer aus Essen berät Sie gerne zu Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit Versammlungen und polizeilichen Maßnahmen, prüft die Beweislage und entwickelt eine passgenaue Verteidigungsstrategie.
Dieser Blog-Artikel dient ausschließlich zu Informationszwecken und ersetzt keine Rechtsberatung. Bei konkreten Fragen oder Anliegen empfehlen wir, sich an einen qualifizierten Rechtsanwalt zu wenden.
Quelle der Entscheidung: Entscheidung des Kammergerichts Berlin vom 2. Juni 2025 Direktlink zur Entscheidung des Gerichts.